Ohne Zweifel hat die Biobewegung eine große Erfolgsgeschichte geschrieben. Sie ist vom belächelten und bekämpften Außenseiter zum Leitbild für gute Lebensmittel geworden. Seit wenigen Jahren ist das Bemühen der konventionellen Lebensmittel-Handelskonzerne groß, sich als „Ihr Bioladen“ darzustellen. Auf deren Werbeblättern und Websites bekommt man den Eindruck, diese hätten „Bio erfunden“ und noch nie etwas anderes gemacht. Der oberflächliche Blick übersieht, dass diese Unternehmen zwischen 95 und 98 Prozent ihrer Umsätze mit Produkten aus konventioneller Landwirtschaft generieren. Und dass sie damit immer noch Grundwasser, Böden und Klima belasten und uns Rückstände von Antibiotika und Pestiziden und hunderten Millionen an Nutztieren erbärmliche Lebensbedingungen zumuten.
Heute werden 70 Prozent der Biolebensmittel über die milliardenschweren Handelskonzerne abgesetzt und das hat selbstverständlich Rückwirkungen auf die Biolandwirte, auf die Verarbeiter und die 100-Prozent-Bio-Händler, den sogenannten Bio-Fachhandel, zu dem auch Biomare zählt. Der plötzliche Bio-Boom hat viele Unternehmen auf den Bio-Zug aufspringen lassen. Es ist kein Geheimnis, dass „Bio“ heute für viele Akteure am Markt weniger eine Überzeugungssache, sondern vielmehr eine lukrative Möglichkeit ist, Geld zu verdienen. So kann es nicht verwundern, dass der nachgewiesene Bio-Betrug in den letzten 15 Jahren rapide zugenommen hat. Und wenn man Bio-Urgesteinen glaubt, die seit Jahrzehnten im Europäischen Markt für Bio-Rohwaren und im Import von Obst und Gemüse arbeiten, so tauchen immer wieder mal plötzlich größere Mengen zertifizierter Bioware auf, die es eigentlich in dieser Masse nicht geben dürfte.
All das ist nicht nur ein Phänomen anonymer Großstrukturen – auch Biomare hat schon zwei kleinen regionalen Anbietern die Tür weisen müssen, weil sie Biolebensmittel verkauft haben, die gar keine waren. Insgesamt wird die Garantie von zuverlässiger Bioqualität zunehmend schwieriger. Es kommt immer mehr auf langjährige und transparente Lieferbeziehungen, aber auch auf Erfahrung und die eigene fachliche Expertise an.
Die konventionelle Lebensmittelindustrie und „Bio“
Zu den Biobauern der Vergangenheit haben sich landwirtschaftliche Großbetriebe, teilweise sogar mit kritikwürdiger Massentierhaltung, gesellt. Die kleinen, bestenfalls mittelständisch arbeitenden Bio-Lebensmittelhersteller haben Wettbewerb von der konventionellen Lebensmittelindustrie bekommen, die nun ab und zu auch Bio produziert und neue Bio-Marken in die Bioläden bringt (Beispiele waren in der Vergangenheit Provamel, Landkrone und Vivani) oder auch gleich Bio-Herstellerfirmen kauft (Allos gehört heute zur Wesanen-Group, Söbbeke zu Savencia SA. und Provamel zum Danone-Konzern).
Spätestens mit dem massiven Einstieg der Handelskonzerne sind auch deren Methoden im Bio-Bereich angekommen. Liefermengen müssen plötzlich gegen Vertragsstrafe garantiert werden, Preise werden vorgegeben, es wird mit Auslistung gedroht, Listungsgebühren und umsatzabhängige Jahresrückvergütungen werden verlangt. Dem können Biobauern und kleinere Hersteller nur standhalten, wenn sie mehr Menge und billiger produzieren.
Und spätestens ab diesem Punkt der Entwicklung geht diese mit einer dauerhaften Reduzierung der Produkt- und Lebensqualität einher. Wir sehen das besonders bei Marken, die auch im konventionellen Handel vertreten sind. Rezeptur-Optimierungen bedeuten oft kostengünstigere Rohstoffe und Herstellungsprozesse. Kräuter und ätherische Öle werden durch sogenannte „natürliche Aromen“ ersetzt, Pulver aus überdüngtem Spinat anstelle von Nitritpökelsalz eingesetzt.
Markennamen werden „übernommen“: BioBio z. B. heißt seit fast 40 Jahren der beste Bioladen Bayreuths – und Biomare bekam eines Tages Post von einer Anwaltskanzlei, die uns im Auftrag eines westdeutschen Unternehmens den Namen Biomare abnehmen wollte. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass einige der Bio-Urgesteine einen Weg eingeschlagen haben, der sehr an die Vorbilder der konventionellen Wirtschaft erinnert. Nämlich dann, wenn es in erster Linie darum geht, der Größte zu sein, Marktmacht anzuhäufen und damit den Unternehmenswert zu maximieren.
Wie steht es um die Glaubwürdigkeit von Bio?
Wir glauben, dass eine Reihe der aktuellen Praktiken in der Biobranche nicht nur die Qualität der Lebensmittel und die Lebensqualität der an der Herstellungskette Beteiligten verschlechtert, sondern auch der Glaubwürdigkeit der Bio-Branche schadet: Wenn z. B. Bio-Unternehmer ihre Produkte im Auftrag von konventionellen Großunternehmen herstellen und verpacken lassen, wenn Bio-Unternehmer ihre Marken in Handelsunternehmen platzieren, für die Bio einfach nur eine zusätzliche Möglichkeit ist, Umsatz und Kunden zu gewinnen. Oder wenn Biobauern sich auf die Bedürfnisse des konventionellen Handels nach Masse und billigem Preis ausrichten.
Sehr viele Kollegen aus dem Fachhandel haben hier in den letzten 15 Jahren viel zu unkritisch einfach Waren und Marken ins Regal gestellt, die der Großhandel oder der Außendienst ihnen vorgesetzt hat.
Der Fachhandel hat sich in der Vergangenheit viel zu oft darauf beschränkt, die steigende Nachfrage nach Biolebensmitteln zu managen und seine Abläufe professioneller zu gestalten. Die Jahre seit der BSE-Krise waren sehr bequem für uns: Wir waren – gemeinsam mit den direkt vermarktenden Biobauern – die einzige Quelle für verlässliches Bio mit einem ernst zu nehmenden Sortiment. Wir hatten sehr kritische Fragen an die Lebensmittelindustrie und hatten im Wesentlichen die richtigen Antworten in unseren Läden. Wir hatten gesellschaftliche Relevanz und waren die Vorreiter für eine bessere, eine nachhaltigere Wirtschaft. Heute sind wir zu weitgehend unpolitischen Händlern geworden. Und unversehens haben die großen Handelskonzerne aufgeholt: Sie bieten breite Bio-Sortimente und teilweise dieselben oder ähnliche Produkte an. Viele Verbraucher glauben zudem, dass es im Supermarkt billiger ist als im Bioladen. Die potenteren Werbekassen haben die milliardenschweren Riesen ohnehin. Das erste Mal in seiner Geschichte verliert der Biofachhandel unterm Strich Kunden. Die Bioläden und Biosupermärkte werden irgendwann überflüssig sein, wenn sie sich nicht selbst in wesentlichen Teilen neu erfinden und intensiv den Aufgaben stellen, die sie wieder in eine gesellschaftliche Vorreiterrolle bringen. Ein Verschwinden der Bioladen-Kultur in Deutschland hätte weitreichende Folgen:Der Vertrieb von Lebensmitteln ist fest in der Hand von vier Handelskonzernen (und zusätzlich von drei Drogerieketten, wenn es um Bio geht). Diese brauchen sehr große Mengen eines Produktes, welche wiederum nur von großen Unternehmen in der Lebensmittelindustrie garantiert werden können. Dieser wirtschaftliche Druck setzt sich in der Landwirtschaft fort, denn große industrielle Mengen brauchen große und einheitliche Rohstoffpartien. Der Bio-Fachhandel und seine Lieferanten sind also auch die einzige existente Alternative zu den industriellen Strukturen in der Lebensmittelerzeugung. Umgekehrt sind kleine Biobauernhöfe und kleine Lebensmittelverarbeiter von den begrenzten Möglichkeiten, die ihnen die Direktvermarktung und der Biofachhandel bieten, existenziell abhängig.
Was ist eigentlich „groß“ im Bio-Handel?
Damit die kleinen Biohöfe bis hin zu den Biosupermärkten eine Zukunft haben, müssen diese verstärkt eine echte Alternative zu den konventionellen Strukturen darstellen. An dieser Stelle muss einmal mit einem verbreiteten Vorurteil aufgeräumt werden: Der Kleinste der vier Lebensmittelhandelskonzerne ist etwa 170 Mal größer als die größte konzernunabhängige Biosupermarktkette „Basic AG München“ mit 35 Biosupermärkten und einem Jahresumsatz von ca. 150 Millionen Euro. Die Ketten AlnaturA und Denn’s sind etwas größer, jedoch Teil der jeweiligen Gruppe mit Schwerpunkt in weiteren Geschäftszweigen. Der manchmal aufgemachte Gegensatz zwischen Bioladen und Biosupermarkt ist also keiner zwischen Klein und Groß, sondern zwischen unterschiedlichen Geschäftsmodellen die unterschiedliche Kundengruppen bedienen.
Im Folgenden sollen die Aufgaben skizziert werden, vor denen Bioläden gemeinsam mit den kleineren Biolebensmittelherstellern und denjenigen Biobauern stehen, die einen höheren Anspruch als die aktuellen Mindeststandards haben.
Wie könnte die Zukunft von Bio aussehen?
Wir sollten politischer werden und kontroverse Themen wie Glyphosat, massenhafter Antibiotikaeinsatz, aktiver Naturschutz und Tierwohl mutiger angehen. Wir sollten unsere Werte als Bio- und Nachhaltigkeitsunternehmen klar ausformulieren und die Sortimente und Produktionsmethoden mutiger danach ausrichten. Wir sollten offen sein für alternative Ansätze des Wirtschaftens – auch wenn bisher noch alle diese Ansätze aufgrund von konstruktiven ökonomischen Irrtümern wieder verschwunden sind. Wir sollten dringend ein gemeinsames Regelwerk für ein höheres Bio-Niveau und eine authentischere Biolandwirtschaft erarbeiten, welches sich an der tatsächlichen Nachhaltigkeitsleistung einschließlich Klima-Fußabdruck ausrichtet. Wir sollten aktiv die teilweise von uns selbst geschürte Bio-Illusion vom idyllischen Heile-Welt-Biohof durch ein realistisches Bild von nachhaltiger (Land-)Wirtschaft ersetzen. Wir brauchen objektive Kriterien für nachhaltige Landwirtschaft und ein nachhaltiges Unternehmen. Damit werden wir weniger anfällig für gut gemeinte, aber substanzlose Kritik aus der Gesellschaft und können eigene Trugschlüsse korrigieren. Vor allem aber gewinnen wir einen Kompass für die eigene Weiterentwicklung. Zu guter Letzt wird unser Selbstverständnis, die bessere Landwirtschaft und die nachhaltigere Art von Wirtschaft zu repräsentieren, objektiv nachprüfbar. Hierfür brauchen wir ähnlich der jetzigen Ökokontrolle ein unabhängiges Prüf-Verfahren für Landwirtschaft, Produktion und Handel. Wir sollten den Mut aufbringen, unsere Kunden in die Verbesserung unserer Unzulänglichkeiten einzubinden.
Bioläden müssen sich immer wieder neu erfinden.
Wir Bio-Unternehmer brauchen verbindliche Zusammenarbeit und einen Denk-Horizont, der deutlich weitergeht als bis zur eigenen Ladentür. Dafür müssen wir das gegenseitige Misstrauen und die wettbewerblichen Eifersüchteleien überwinden und verstehen, dass wir als sehr kleine Unternehmen nicht in der Lage sind, anspruchsvolle Probleme allein zu lösen. Aufgaben wie ökologisch optimierte Verpackungen, die Organisation einer effizienten regionalen Bio-Logistik oder die gezielte Entwicklung der regionalen Biowirtschaft können nur gemeinsam gestemmt werden.
Die Zukunftsthemen sind – anders als mit der Ausgangsfrage suggeriert – nicht der Gegensatz zwischen Groß und Klein, nicht Industrie gegen Handwerk, und auch nicht Handelskonzern gegen Tante-Emma-Laden. Größe bringt uns fast immer auch einen Zugewinn an Produktivität, was uns wiederum die Freiräume für unsere Lebensqualität schafft. Problematisch wird Größe erst dann, wenn dadurch der Wettbewerb eingeschränkt ist und alternative Modelle trotz vorhandener Nachfrage kaum mehr Chancen bekommen. Niemand kann ernsthaft von sich behaupten, zu wissen, wie die optimale Zukunft aussieht. Deshalb ist Entwicklung immer ein Prozess von „trial and error“. Die Zukunft braucht nicht fertige Modelle, sondern Entwicklungsräume, also Freiräume für unterschiedliche Ideen. Unsere entscheidende Aufgabe ist es, diese Entwicklungsräume zu schaffen. Gleichgültig ob wir uns in der Rolle als Unternehmen, als Konsumenten oder als Gestalter des politischen Rahmens bewegen – wir müssen uns persönlich einbringen für die Herstellung von maximaler Transparenz, die Akzeptanz anderer Denk- und Arbeitsansätze und den Mut, neue Ansätze auszuprobieren. Wir müssen begreifen, dass Konkurrenz eine positive und die entscheidende Kraft für Entwicklung ist. Wir brauchen aber auch die Größe, uns gegen den persönlichen oder unternehmerischen Vorteil zu entscheiden, wenn wir wissen, dass dieser der Gesamtentwicklung oder dem Nebeneinander verschiedener Ansätze schadet. Wir müssen uns zusammenschließen, wenn bestimmte Ziele nur mit mehr Gewicht erreichbar sind. Und für den Diskurs müssen wir alle die folgende einfache, aber zentrale Wahrheit verinnerlichen: Es ist möglich, dass mein Gegenüber Recht hat und ich selbst Unrecht.
Text: Malte Reupert